STEPPING ON EACH OTHER'S FEET.
Improvisation als PraXis ​​​​​​​

This is a voice
These are the hands
This is technology
Mixed with the band

Grace Jones “This Is” auf dem Album Hurricane, 2008


Der Komponist Jacques Coursil beschrieb die Praxis der musikalischen Improvisation als ein Ereignis der Zeitaufhebung, das dazu einlädt, eine andere als die lineare Beziehung zur Zeitlichkeit herzustellen. Im synchronen Punkt des gleichzeitigen Hörens und Produzierens von Klängen entfaltet sich die Gegenwart als radikale Neuheit. Das Erleben von Musik selbst stellt die Trennung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Frage. Beim Improvisieren entscheiden sich Musiker:innen für das weite Feld Bereich des Unvorhergesehenen. In diesem Sinne erscheint die Improvisation als eine Praxis einer bestimmten Modalität des Bewusstseins und der Gegenwart. Sie öffnet den Raum für Austausch und Dialog.

Wir laden Euch herzlich zu einer Reihe mit experimentellen Konzerten und Klangperformances ein, die auf Improvisation als Methode beruhen. Dabei kommen Klangkünstler:innen, Musiker:innen, DJs, und Musikproduzent:innen aus Berlin zusammen, um Formate für musikalischen Austausch zu entwickeln, bei denen die (prä)formale, alltägliche und soziale Dimension des kreativen Schaffens innerhalb von Soundgemeinschaften hervorgehoben werden.

Wir empfinden es eine Dringlichkeit, gemeinsame Räume für klangliche Artikulation vorzubereiten, zu schaffen und aufrechtzuerhalten, die die Erfahrung nicht-normativer, diasporischer und systemisch ausgegrenzter Gemeinschaften in den Mittelpunkt stellen und sich mit alternativen, einladenden und zugänglichen Arten des Musikmachens und -hörens zu beschäftigen.

Jede Performance sowie ihr Entstehungsprozess werden dokumentiert und auf der Radioplattform SAVVYZΛΛR ausgestrahlt. Dem geht jeweils ein Interview mit Refuge World Wide Community Radio voraus, was auf deren Radiowellen gesendet wird. In jeder Session nehmen wir unsere unmittelbare Umgebung unter die Lupe, um Geschichte(n), Erinnerungen und Bewegungen in den dynamischen Beziehungen zwischen verschiedenen Gemeinschaften in Berlin, insbesondere in unserem Stadtteil Wedding, nachzugehen. Im Rahmen dieses Projekts stellen wir uns die Frage, wie genau wir den Stimmen des Viertels zuhören können, das eine lange Geschichte der Gewalt und des Widerstands birgt und das derzeit einen beschleunigten Gentrifizierungsprozess erlebt.

Die Reihe konzentriert sich auf improvisatorische Aspekte des Musizierens als Antwort und Einladung zum gemeinsamen Nachdenken über die Trennung von Künstler:in und Publikum. Dabei achten wir sowohl auf grundlegenden Rollen, die Spiel und Sozialität in kreativen Prozessen einnehmen, als auch darauf, was einer öffentlichen Aufführung vorausgeht und was ihr folgt. Diese erweiterte Perspektive ermöglicht es uns, anzuerkennen, dass wir uns in einem gemeinsamen Raum mit unterschiedlichen klanglichen Kompetenzen, verkörperten musikalischen Archiven und überlieferten Traditionen befinden und diesen mit unterschiedlichen, aktivierten Erinnerungen verlassen.

Improvisation ist demnach eine Praxis der Wahrnehmung anderer und der Reaktion auf unterschwellige Rufe von Körpern und Klangkörpern. Indem wir vorbereitende Elemente klanglicher Praxis wie Proben und Improvisationen in den Mittelpunkt stellen, wollen wir die Dichotomie zwischen privat und öffentlich hinterfragen, bei der private Vorbereitungen und Proben der öffentlichen Aufführung gegenübergestellt werden. Durch die Betonung des prozessualen Charakters des Musikmachens beabsichtigen wir, durch Formate wie Klangspaziergänge und Jam Sessions einen Raum zum gemeinsamen Experimentieren jenseits der Grenzen der Musikindustrie und jenseits der Trennung von privater und öffentlicher Performance zu eröffnen.

Probepartituren und Verhaltenskodizes
Die Praxis des Improvisierens, bei der es um Begegnungen mit anderen geht, schafft ein Bewusstsein dafür, dass wir unterschiedlich vorbereitet in den Raum kommen, dass wir unterschiedliche Erfahrungen, Wissenssysteme, Traditionen und Formen des Gegenwärtigseins in uns tragen. Das bedeutet, dass wir uns während einer Improvisation gegenseitig "auf die Füße treten" können, bis wir uns auf den Rhythmus der anderen ein- und ausstimmen. Es ist eine Methode, um zu üben, wie wir mit- und füreinander präsent sind.

Präsent, „da“ zu sein, ist kein passiver Akt, sondern Arbeit. Es bedeutet, aktiv zu gestalten und zu entscheiden, wie man einen Raum mit anderen bewohnt und be-„lebt“. Das Publikum ist nicht weniger aktiv als die Darstellenden. [2] Wir laden die teilnehmenden Künstler:innen dazu ein, Verhaltenskodizes und vorbereitende Notationen vorzuschlagen, mit denen sie ihre Definition von Improvisation erläutern und so den Begriff erweitern und in verschiedenen Musiktraditionen verwurzeln. Das anfängliche Gespräch mit dem Publikum und der Öffentlichkeit dient als Einladung, eine experimentelle Formel der klanglichen Auseinandersetzung vorzuschlagen, die wiederholt und in einfacher Form als eine Reihe von Partituren weitergegeben werden kann. Die Sessions bei SAVVY werden eine Gelegenheit zum Experimentieren sein – eine erste Probe der vorgeschlagenen Methode. Die Dokumentation wird eine Verbreitung über den Rahmen des Projekts hinaus ermöglichen.

Das Projekt konzentriert sich auf die Entwicklung von Methoden, die in Zusammenarbeit mit dem Berliner Community-Radio Refuge Worldwide und SAVVYZΛΛR über das Radio verbreitet werden können. Die Dokumentation dient als eine Form der Vermittlung zwischen Künstler:innen, Publikum und Nachbarschaft und wird daher die künstlerische Form einer experimentellen Partitur und einer Radiosendung annehmen. Dieses Format wird es auch Zuhörenden außerhalb Berlins ermöglichen, die Methode zu proben und weiterzuentwickeln und durch klangliche Übungen die Begriffe von nah und fern zu hinterfragen.

Improvisation als Praxis: ein konzeptioneller Rahmen
Sylvia Wynter unterstreicht in ihrem Aufsatz von 1977 "We Know Where We Come From: The Politics of Black Culture from Myal to Marley", wie wichtig es für die Konstituierung der Identität der nicht-normativen Gemeinschaft der Rastafarians ist, das linearen Konzept von Zeit und Raum in Frage zu stellen. Sie stellt fest, dass die Struktur von Reggae-Liedern das lineare Konzept von Zeit herausfordert, da sie weder einen klaren Anfang noch ein klares Ende haben. Dadurch wird die unmittelbare Erfahrung einer "anderen Welt" ermöglicht. Diese unzeitige Präsenz wird geschätzt, da sie es ermöglicht, sich im Augenblick einer ästhetischen Erfahrung außerhalb der Norm repressiver sozialer Strukturen zu konstituieren.  Darüberhinaus ermöglicht es das Gefühl, an einen anderen Ort “transportiert” zu werden: “Was fern ist, ist nah”. [3]

Musikalische Improvisation und ästhetische Erfahrung ermöglichen es uns, die Normativität von linearer Progression innerhalb sozialer und musikalischer Formen, in Frage zu stellen. Sie ermöglichen ein Bewusstsein für die Gleichzeitigkeit der Existenz, für verschiedene Lebensweisen, für ein Leben im Jetzt. Das Projekt ist ein Aufruf, die Koexistenz zu bewahren, ihre Bedrohung durch Spaltung zu verhindern, und eine geteilte Gegenwart, ein gemeinsames Da-Sein zu initiieren, das weder in die Zukunft verschoben noch in die Vergangenheit verwiesen wird.

In einer von Gewalt erschütterten Welt zu feiern, ist unangebracht, nicht zeitgemäß. Gerade deshalb ist das Aussetzen der Zeit ein Geschenk der Freude, das Brücken bauen kann. Um an die Worte von Audre Lorde zu erinnern: "Das Teilen von Freude, sei es körperliche, emotionale, psychische oder intellektuelle, bildet eine Brücke zwischen denen, die sie miteinander teilen. Dies kann dann die Grundlage für das Verständnis von vielem sein, was nicht zwischen ihnen geteilt wird, und verringert die Bedrohlichkeit ihrer Verschiedenheit."[4]

1

Jacques Coursil, “Improvisation is a Practice: The Hidden Principles of Improvisation” in: I Will Draw a Map of What You Never See: Endeavours in Rhythmanalysis, herausgegeben von Elena Agudio, Anna Jäger, Saskia Köbschall, Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, Berlin: Archive Books, 2019.

2

Jacques Rancière, The Emancipated Spectator [Le Spectateur émancipé], übersetzt von G. Elliott, Verso, London 2009, 1-25.

3

Grace Jones “This Is”, auf dem Album Hurricane, 2008.

4

Audre Lorde, Uses of The Erotic: The Erotic as Power, Out & Out Books, Brooklyn, N.Y., 1978.