S/HE SPOKE ‘I AND I’ FOR WE: On the poesis of collective mental healing

––  AoN Symposium anlässlich der 58. Bienale di Venezia im Rahmen des Ultrasanity–Projekts von SAVVY Contemporary in Zusammenarbeit mit der Psychiatric Community of the Fondazione Emilia Bosis.

He spoke "I and I" for we, a sense that said
The collective was on flesh in different skins
And we were only branches of the Mighty Dread
Separated by customs, flawed beliefs and sins.
He said "I overstand" for the understanding we
Claim through muddled mire of mangy history.

L'nass Shango [1]

So the human story/history becomes the collective story/history of these multiple forms of self-inscription or self-instituted genres, with each form/genre being adaptive to its situation, ecological, geopolitical.

Sylvia Wynter [2]

The struggle we are confronted with cannot be in any way a one-person task. We must now collectively undertake a rewriting of knowledge as we know it. This is a rewriting in which, inter alia, I want the West to recognize the dimensions of what it has brought into the world—this with respect to, inter alia, our now purely naturalized modes or genres of humanness. You see? Because the West did change the world, totally. And I want to suggest that it is that change that has now made our own proposed far-reaching changes now as imperative as they are inevitable. As Einstein said, once physical scientists had split the atom, if we continue with our old way of thinking—the prenuclear way of thinking—we drift as a species toward an unparalleled catastrophe. (…) We therefore now need to initiate the exploration of the new reconceptualized form of knowledge that would be called for by Fanon’s redefinition of being human as that of skins (phylogeny / ontogeny) and masks (sociogeny). Therefore bios and mythoi. And notice!
One major implication here: humanness is no longer a noun.
Being human is a praxis.

Sylvia Wynter [3]

Die Association of Neuroesthetics (AoN) veranstaltet anlässlich der 58. Biennale von Venedig ihr 7. Symposium. Das diesjährige AoN-Symposium fällt mit dem ersten Kapitel des einjährigen Projekts ULTRASANITY. ON MADNESS, SANITATION, ANTIPSYCHIATRY AND RESISTANCE von SAVVY Contemporary zusammen: Ein Forschungs-, Performance- und Ausstellungsprojekt in mehreren Kapiteln in Zusammenarbeit mit der AoN, der ifa-Galerie in Berlin, dem Gnaoua-Festival in Essaouira und der 6. Biennale de Lubumbashi. Die Veranstaltung bringt Kognitionswissenschaftler*innen, Ärzt*innen, Sozialwissenschaftler*innen, Künstler*innen, Patient*innen und Neurowissenschaftler*innen zusammen, um hegemoniale Kenntnisse und Heilungspraktiken in der biomedizinischen Psychiatrie und Psychoanalyse in Frage zu stellen und über alternative Ansätze, Gegentechniken und deren Bedeutung für die Wissenschaft und als Wissenschaft selbst nachzudenken. Hegemoniale Therapeutika basieren hauptsächlich auf einem westlichen Ethnozentrismus, der die Heilungsmöglichkeiten kollektiver, mythischer und historischer Erzählungen ignoriert. Mit diesem Programm bemühen wir uns, uns sowohl mit dem Diskurs als auch der Praxis auseinanderzusetzten, um Normalitätsvorstellungen anzufechten, Nosologien zu erweitern und Dimensionen eines Therapeutikums zu hinterfragen, das auf wissenschaftlicher Objektivität und Ethik beruht und phänomenologische und soziale Dimensionen, Machtagenden und kollektive Bedeutung ignoriert.

Mit der Teilnahme von Patient*innen und Mitarbeiter*innen aus der psychiatrischen Gemeinschaft der Emilia Bosis Foundation in Bergamo (Italien), wirft die Veranstaltung Probleme auf, die mehrere Grammatiken der Gewalt in Frage stellen, darunter diejenigen, die in derzeit praktizierten universellen Therapiemodellen und oft vorrangig in der Psychopharmakologie eingeschrieben sind, welche die Bedeutung von spirituellen, systemischen, generationsübergreifenden Geschichten und Gemeinschaften für die Formulierung von Heilungsstrategien häufig ausklammert. Darüber hinaus werden internationale Experimente mit relationalen und psychosozialen Aspekten wie gemeinschaftsorientierte kollaborative Pflege und Wiedergutmachung durch Experimente mit kunstbasierten und kollektiven Prozessen der Kulturtherapie abgefragt.

Ärzt*innen und Praktiker*innen wie Jaswant Guzder, Frederick Hickling und Vitor Pordeus, die an dem Symposium teilnehmen werden, haben Alternativen gesucht zum „Versagen weißer Psychiater*innen im Verständnis psychotherapeutischen Dynamiken Schwarzer Menschen“ [4], Minderheiten und marginalisierte Gruppen innerhalb der westlichen Gesellschaften. Diese Hegemonien wurden ohne Phantasie und Umformulierung der kulturellen Einbettung in den Nicht-Westen transportiert. In dieser Begegnung hinterfragen wir die Lücken und Streichungen mythischer und sozialer Bereiche, die in kulturellen Realitäten entstehen. Gemeinsam bemühen wir uns, den Vorrang der "Unerbittlichkeiten der reinen Wissenschaft" und des westlichen kartesischen Denkens in Frage zu stellen, zusammen mit den von Künstler*innen, Praktiker*innen und Neurowissenschaftler*innen eingeführten Neuerungen.

Wir werden uns nicht nur auf wissenschaftliche (Fehl-)Vorstellungen von Psychopathologien, Behandlungsmethoden und Methoden der Verwaltung von öffentlicher Ordnung konzentrieren, sondern auch auf das komplexe Netzwerk von Familie, Medizin, Staat und Wirtschaft eingehen, um das Potenzial der Heilung durch kollektive Praktiken zu erkunden.

Unter neoliberalen Bedingungen wurde die Verantwortung der Pflege auf die Einzelnen selbst übertragen. Wir betinen daher die Wichtigkeit, “psychiatrische Bedingungen nicht als individualisiert und depolitisiert“ zu betrachten, „wie es häufig dargestellt wird,“ sondern wir versuchen

 zu verstehen, „inwiefern die weitreichenden Strukturen von globalen Kapitalismus, geopolitischen Narrativen und Neoliberalisierung des Staates Auswirkungen auf unser Verständnis des Selbst im Alltag haben.“ [5] João Biehls Arbeit, vor allem sein bahnbrechender Bericht Vita: Das Leben in einer Zone des sozialen Abbruchs (2005), enthüllt diese poetischen und gewalttätigen Texturen im Kontext des heutigen Brasiliens und trägt zu unserem Verständnis bei, wie die Ungewollten, die Kranken und psychisch Kranken und die Obdachlosen als „Andere“ marginalisiert und konstruiert werden.

Wir werden uns auf die Betonung der Pharmazie als Vorreiter von psychischen Eingriffen und Heilung im Nord-Süd- und West-Ost-Wissensaustausch konzentrieren. Die Veranstaltung konzentriert sich insbesondere auf die Heilungsbemühungen, die sich aus der alternativen Arbeit von Psychotherapieprozessen in großen Gruppen innerhalb von "sociodrama" und "psycho-historiography"-Rahmen ergeben, die bei der De-Institutionalisierung in Jamaika durch Theater und Poesie im Mental Hospital Bellevue Mitte der 70er Jahre eingesetzt wurden und in jüngeren Maßnahmen mit Kindern in jamaikanischen Schulen. Diese letzteren Bemühungen führten Poesis und Performance ein, um die hohen Gewalt- und Risikoraten zu thematisieren, denen Kinder in einem von der Sklaverei geprägten Umfeld ausgesetzt sind. Diese Maßnahmen mobilisieren das Konzept des „reasoning”, das von der jamaikanischen Rastafari-Methodik der tiefgreifenden Diskussion im Gruppenprozess inspiriert wurde, was zu der Möglichkeit eines kollektiven “overstanding” führt, ein Rastafari-Begriff, der Einsicht bedeutet. [6]

Ein weiteres innovatives Experiment entstand in Brasilien mit den Theater- und Kunstprojekten im psychiatrischen Komplex von Engenho de Dentro in Rio de Janeiro, die auf dem Erbe von Nise de Silveira und dem Madness Hotel-Projekt mit einer psychiatrischen ambulanten Bevölkerung aufbauen. Vitor Pordeus bestand auf dem Unterschied zwischen der Heilung und der Behandlung der geistigen Gesundheit. Er entwickelte Schauspielmethoden für die geistige Heilung und untersuchte die Zusammenhänge zwischen Ökonomie und psychischer Gesundheit.

Frederick Hickling ruft die affektive Vertretung der populären Kultur und des Theaters hervor und meint: "Für die Deinstitutionalisierung ist die Existenz einer Gemeinschaft zentral, die geistig Erkrankte annehmen kann und ihnen einen Platz in der Gesellschaft bereitstellt.“  [7]

Mit Theater, Kunst und Handlungsmacht  beschäftigten sich die psychiatrischen Innovationen in Gesellschaften, die durch Kolonialisierung brutalisiert wurden, sowohl in Jamaika als auch in Brasilien. Sie stützten sich auf das Erbe und die Ideen von Frantz Fanon, Paulo Freire, Rex Nettleford und vielen anderen Stimmen aus diesen marginalisierten Welten. Auf Kunst basierende Heilungsmaßnahmen sind grundlegend für die in Jamaika und Brasilien entwickelten Ansätze, die die Fähigkeit der individuellen und kollektiven Handlungsfähigkeit und Stimme unterstützen. Dieser alternative Diskurs hinterfragte Wege der Wiedergutmachung und schuf Heilungsstrukturen, die tief in lokale symbolische und mythische Welten eingebettet waren. Diese Innovationen begaben sich in die Künsten als unverzichtbare Instrumente zur Heilung zerstörter Kollektivkörper und Seelen von Gesellschaften nach der Sklaverei. Künstlerische Praktiken wurzeln in persönlichen Erfahrungen und suchen nach einer kollektiven Bedeutung, wodurch die Tiefen und Schatten der Psyche durch verkörperte und soziale Kontexte überbrückt werden. In diesen Experimenten wird das Engagement der Gruppe und Gemeinschaft als zentral für das Wohlbefinden wiederhergestellt und bleibt für Heilung und heilige Rituale, Respektlosigkeit und Erneuerung von großer Bedeutung.

Als vielfältiges Format aus Vorträgen, Interventionen, Diskussionen, Filmvorführungen und Performances konzipiert, werden an der Veranstaltung unter anderem die Soziologin Monica Greco, die Psychiaterin und Künstlerin Jaswant Guzder, der Schauspieler und Psychiater Vitor Pordeus, der Theaterregisseur und Aktivist Seydou Ndiaye, die Künstlerin Pélagie Gbaguidi und andere teilnehmen.

In dieser interdisziplinären Konstellation sprechen wir zusammen mit Ärzt*innen, Akademiker*innen, Künstler*innen, Patient*innen und Aktivist*innen über die Politik und Praxis kollektiver psychischer Heilung und stellen uns der Notwendigkeit und Dringlichkeit einer erneuten Humanisierung von Therapie und Pflege – oder, wie Sylvia Wynter es ausdrückt, dem Humanismus einen neuen Zauber zu verleihen [8] – und setzen uns auch mit der Beziehung zwischen Ärzt*innen und Patient*innen auseinander.

1

A stanza from L'nass Shango’s poem The Legacy, published online on poetrysoup.com: https://www.poetrysoup.com/poem/the_legacy_158952

2

David Scott, "The Re-Enchantment of Humanism: An Interview with Sylvia Wynter", Small Axe 8 (2000): 206.

3

Katherine Mckittrick, Sylvia Wynter: On Being Human as Praxis, Duke University Press (2015): 18, 23

4

Hickling is here using the Rastafarian word ‘overstand’ instead of understand, meaning to have complete or intuitive comprehension, to understand fully. Rastafarian language often employs play on words as a form of subversion of the colonial language, as a symbol of separation from the Western ideology and as well as a continual remembrance of the struggle for emancipation. See: Hickling FW. "Popular Theatre as Psychotherapy". Interventions. International Journal of Post Colonial Studies Vol 6 (1), 2004, 45-56.

5

Sophie Hoyle. Inner Security: Anxiety from the Interpersonal to the Geopolitical, A video-essay made for 'Anxious To Secure: Inner Security', a panel discussion at Transmediale, HKW Berlin 2016.

6

Rastafari language often employs play on words as symbol of separation from the Western ideology and as well as a continual remembrance of the struggle for emancipation.

7

Frederick W Hickling, "Community Psychiatry and Deinstitutionalization in Jamaica", Hospital & Community Psychiatry 45(11), December 1994, 1122-6.

8

“…because of the systemic marginalization, they were forced to daily experience their deviance, their imposed liminal status with respect to the normative order, and to what it is to be human in terms of that order. (..) we know about political sovereignty, especially with the rise of the state. We know about economic sovereignty, with the dominance of free market all over the world, together with its economic organization of reality. We do not know about something called ontological sovereignty. And I’m being so bold as to say that order to speak the conception of ontological sovereignty, we would have to move completely outside our present conception of what it is to be human, and therefore outside the ground of the orthodox body of knowledge which institutes and reproduces such a conception” in: "The Re-Enchantment of Humanism: An Interview with Sylvia Wynter", Small Axe 8 (2000): 119-207.