Garden of Ten Seasons

Beim Nachdenken über die Zukunft des 21. Jahrhunderts – von Politik bis Technologie–, fragen wir uns, von verschiedenen Kosmologien ausgehend: Können wir uns vorstellen, dass die Kunst ein singuläres System bleibt, mit einem universellen Anspruch und einer einheitlichen Ästhetik? Könnte die Kunst als kohärentes Konzept überhaupt überleben, während wir versuchen, Lösungen für die Dilemmata der Pluralität in unserer unruhigen Welt zu finden? Und sollte sie das überhaupt?

Mit großer Freude heißt SAVVY Contemporary die Ausstellung GARDEN OF TEN SEASONS in Berlin willkommen, die von Cosmin Costinaș, Sheelasha Rajbhandari und Hit Man Gurung kuratiert wurde, um auf unserem Boden diese Fragen und Setzlinge zu harken, zu gießen und zu pflegen, aus denen die Kathmandu Triennale 2077 erwuchs, die Anfang dieses Jahres in Nepals Hauptstadt stattfand, ebenso wie ihr Vorläufer Garden of Six Seasons, der 2020 bei Para Site in Hongkong stattfand.

Ausgangspunkt des Projekts sind Fragen, die in Nepal wie auf der ganzen Welt im Zusammenhang mit Diskursen über Entkolonialisierung, Pluralismus von Weltanschauungen und Systemen diskutiert werden. Dabei lässt es jede Form totalisierender Ansprüche hinter sich, sei es durch monokulturelle Nationalstaaten oder durch eurozentrische Kanons und Terminologien. Nepal erlebte nach 2006 historische und dramatische Veränderungen, darunter den Übergang von einer Monarchie zu einer föderalen Republik, mit anhaltenden Debatten und Spannungen im Zusammenhang mit den Grundlagen zur Wiederherstellung der Nation, sowie das verheerende Erdbeben von 2015. Diese Momente der Neuordnung inmitten der Ungewissheiten unserer Gegenwart haben das Land und seine über hundert ethnischen, kulturellen, sozialen und Kastengruppen, einschließlich indigener Gemeinschaften und Kategorien mit einer langen Geschichte der Marginalisierung, in eine zukunftsweisende Stellung zur Findung unterschiedichste Arten des Zusammenlebens in der Welt gebracht.

Darüber hinaus haben Gespräche über zeitgenössische Kunst, ihre Genealogie, institutionelle Strukturen und Machtverhältnisse sowie geeignete Plattformen für horizontale Gespräche mit kulturellen Praktiken unterschiedlicher Herkunft in den letzten Jahrzehnten nicht nur die nepalesische Kunstszene beschäftigt, sondern auch viele andere Kontexte auf der ganzen Welt geprägt und wichtige Fragen zu lokaler Kultur und Identität sowie zur Politik der globalen Zirkulation von Ideen und Kunstformen in den Vordergrund gerückt. 

Eine zentrale Position in diesem Projekt nehmen daher Künstler:innen ein, die mit und aus vielfältigen ästhetischen und kosmologischen Perspektiven und Bedeutungsebenen arbeiten und die die Vielfältigkeiten zum Ausdruck bringen, aus der sich unsere kaleidoskopische globale Realität zusammensetzt. Es handelt sich dabei um Praktiken, die oft systematisch aus dem Bereich der Kunst ausgeschlossen und durch einen kolonialen ethnografischen Blick als Handwerk, Folklore oder bestenfalls als "traditionelle" Kunst bezeichnet wurden, auch wenn sich diese Praktiken ständig weiterentwickeln und die Spuren ihrer kontextuellen Transformation und dieser oft ungehorsamen Instabilität verkörpern. In diesem Sinne stellt das Projekt insbesondere zeitgenössische Praktiken vor, bei denen indigene Perspektiven im Bereich der Technologie agieren, bei denen Körper und Traditionen queer gelesen werden, bei denen Objekte und Rituale nicht als Essenzen sondern als permanent zu verhandelnde Identitäten verstanden werden und bei denen Folklore das Schlachtfeld von Dekolonialität, Gegenkultur und kritischer Auseinandersetzung ist.

In dem Bestreben, die Betrachtung zeitgenössischer künstlerischer Praktiken zu erweitern, beziehen wir in diesem Projekt Materialität und Medien aus verschiedenen Gemeinschaften in Nepal sowie der ganzen Welt ein, einschließlich verschiedener Formen und Linien der Objekt-, Bild- und Klanggestaltung, die sich parallel zu den Brüchen der Moderne entfaltet haben. Das Projekt erörtert geeignete Rahmenbedingungen für das Verständnis und die Zusammenführung dieser vielfältigen ästhetischen und kosmologischen Linien, die heute aktiv sind, von der Paubha-Malerei in Nepal, Tuschekunst in Ostasien und Herstellung von Rindenstoff im Pazifik bis hin zu Körpermarkierungen und Webarbeiten auf der ganzen Welt ebenso wie anderen Sprachen, die in den globalen Diskursen über zeitgenössische Kunst oft marginalisiert werden. Das Projekt blickt aber auch über die in diesen Kontexten vorherrschenden Traditionen hinaus und stellt Praktiken von Gemeinschaften vor, die oft Prozessen der internen Kolonisierung durch ihre eigenen, meist postkolonialen Staaten und deren offiziellen kulturellenn Narrativen ausgesetzt waren.

Es handelt sich dabei um mehr als nur formale Übungen, denn sie zielen darauf ab, ein umfassenderes Gespräch über verschiedene Kosmologien und Bedeutungen in Bezug auf Spiritualität, Formen der Heilung, Bewahrung von Erinnerung, Darstellung von Mythologie und kollektives Feiern zu eröffnen. Diese Bestrebungen, den Bereich dessen, was heute als Kunst gilt, zu erweitern, führen zu politischen Implikationen. Sie sind Teil der Bemühungen um die Entkolonialisierung unseres Bewusstseins, in dem wir über die Kategorie der Kunst hinausgehen, wie sie durch das koloniale Erbe vieler spezifischer Kontexte sowie durch unsere gemeinsame globale Kultur definiert ist. Diese Arbeiten werden parallel zu dem Versuch gezeigt, die Rezeption und den Einfluss verschiedener Persönlichkeiten der nepalesischen Kunstgeschichte der letzten Jahrzehnte neu zu beleuchten. 

Das Projekt interessiert sich darüberhinaus für indigenes Wissen, das lebendig und subversiv ist und darauf hinwirkt, patriarchale Strukturen und dominante nationale Systeme zu überwinden und eine neue globale Solidarität von Orten und Gemeinschaften des Widerstands zu schaffen. Es werden Werke quer durch die Kontinente ausgestellt, die Nepal in einer anderen Geografie, jenseits der Regionen, in denen es gemeinhin betrachtet wird, verorten. Die Schaffung neuer Koordinatenkonstellationen wird auch dadurch erreicht, dass Nepal in eine Reihe mit anderen Ländern gestellt wird, die ihre moderne Identität entlang der komplizierten und ungenauen Erzählung definiert haben, dass sie die einzigen Länder in ihrem regionalen Kontext sind, die nicht kolonisiert wurden – wie Thailand und Tonga. Diese Gemeinsamkeit schuf vielen geteilte Erfahrungen, darunter die Verzögerung der Einsicht in die Notwendigkeit, ihre kulturellen Narrative zu dekolonisieren. Die Katastrophen der letzten Jahrzehnte, die Schichten der Zerstörung, die sowohl Trauma als auch Widerstand hervorgebracht haben, die gemeinsame Erfahrung der Zeitgenossenschaft als aktueller und prekärer Brückenkopf über der Katastrophe schaffen neben Nepal eine weitere Erinnerungsgemeinschaft, die sich aus verschiedenen geografischen Regionen, von Südostasien bis Lateinamerika, zusammensetzt. Der Status Nepals als Land der Massenauswanderung eröffnet eine weitere Definition einer Internationale.

Was schließlich den Titel und seine verschlungene Entwicklung während der verschiedenen Phasen des Projekts betrifft: Eines der Werke in der Ausstellung, Citra Sasmitas Kamasan-Gemälde auf Kuhhaut, zeigt einen Garten mit weiblichen Figuren, Feuern und verschiedenen Naturelementen, die auf launische Weise in einer Entfaltung pansexueller Energie und Kraft komponiert sind und eine säkulare, befreiende Mythologie für eine postpatriarchale Zukunft imaginieren. Darunter, handgeschrieben in einer Scheibe aus Kurkuma, führt das Gedicht "The Harbor of Restless Spirit" aus dem 14. Jahrhundert in den balinesischen Kalender mit seinen zehn Jahreszeiten und den Möglichkeiten ein, die jede Jahreszeit zum Leben erweckt. In der ersten Ausgabe des Projekts bezog sich der Garten der sechs Jahreszeiten auf einen realen Garten in Kathmandu, besser bekannt unter seinem anderen Namen – Garten der Träume–, der 1920 von einem dynastischen Premierminister in Nepal erbaut wurde. Er wurde als Edwardianischer neoklassizistischer Garten inmitten des Stadtgefüges von Kathmandu angelegt. Die Wellen des Wandels im letzten Jahrhundert haben seine sechs Pavillons auf drei reduziert. Durch den Klimawandel wurden auch die bekannten sechs Jahreszeiten im Kathmandutal auf vier reduziert. Die Rana-Dynastie, die die Schirmherrschaft über den Garten innehatte, ist längst untergegangen. Ebenso wie die Monarchie, die in jüngerer Zeit von der Revolution dieser Generation hinweggefegt wurde, der Quelle von Nepals reichhaltiger kritischer Energie, von der man so viel lernen kann.