UNRAVELING THE (UNDER-)
DEVELOPMENT COMPLEX
OR
TOWARDS A POST- (UNDER-)
DEVELOPMENT INTERDEPENDENCE 

AN ODE TO WALTER RODNEY’S “HOW EUROPE UNDERDEVELOPED AFRICA” 50 YEARS ON
(1972–2022)

  

Entwicklung ist in der menschlichen Gesellschaft ein vielschichtiger Prozess. Auf der Ebene des Individuums bedeutet sie zunehmende Fähigkeiten und Fertigkeiten, größere Freiheit, Kreativität, Selbstdisziplin, Verantwortung und materiellen Wohlstand. Einige davon sind geradezu moralische Kategorien, die schwer zu bewerten sind, da sie von der Zeit, in der man lebt, von der Herkunft aus einer bestimmten Klasse und vom persönlichen Kodex dessen, was richtig und was falsch ist, abhängen. (...) Die Beziehungen, die sich innerhalb einer bestimmten sozialen Gruppe entwickeln, sind entscheidend für das Verständnis der Gesellschaft als Ganzes: Freiheit, Verantwortung, Können usw. haben nur in Bezug auf die Beziehungen zwischen den Menschen in der Gesellschaft eine wirkliche Bedeutung.

Walter Rodney, How Europe Underdeveloped Africa

Dieses Projekt lehnt sich an Walter Rodneys How Europe Underdeveloped Africa an und feiert es fünfzig Jahre nach seiner Veröffentlichung, während es die Frage stellt: Wie können wir uns eine Welt der Post-(Unter)Entwicklung vorstellen?

Walter Rodneys gründlich recherchierte und pointierte historische, soziologische und sozioökonomische Abhandlung wurde 1972 veröffentlicht und feiert in diesem Jahr, 2022, ihr 50-jähriges Jubiläum. Das bahnbrechende Buch führt uns durch die Institutionalisierung des Kolonialismus, die Aufteilung von Bevölkerungen, die Aufoktroyierung von Sprachen und die Zerstörung von Wissen und Kulturen und zeigt auf, welche Auswirkungen dies in den Jahren 1971/72 hatte und auch heute, 50 Jahre später, noch hat. Es bietet den Lesenden ein historisches Exposé des afrikanischen Kontinents vor der Zeit des gewaltätigen und unmenschlichen transatlantischen Versklavungshandels und führt uns gleichzeitig durch die Ära der dekolonialen Bewegungen.

Dieses Projekt wagt den Versuch, den Status quo zu analysieren und sich eine Welt vorzustellen, die nicht innerhalb der Binarität von "Entwicklung" und "Unterentwicklung" existiert. Es manifestiert sich an verschiedenen Orten (Bandjoun, Nairobi, Berlin, Abidjan und Johannesburg) als eine Reihe von Recherchen, Ausstellungen, Performances, Vorträgen, Gesprächen und Workshops rund um die Mythen von "Entwicklung" und "Unterentwicklung", in denen wir über eine Post-(Unter)Entwicklungswelt nachdenken.

Unser Ziel ist es, ein Netzwerk von Aktivist:innen, Klangagitator:innen, Wissenschaftler:innen, Künstler:innen und Designer:innen, politischen Ökonom:innen und Praktiker:innen zusammenzubringen, um Wissen über Sprachen und Klangfarben hinweg auszutauschen und uns gemeinsam ein post-entwicklungspolitisches Zeitalter vorzustellen und zu gestalten. Ein Pluriversum von voneinander abhängigen Vorstellungen, Visionen und Strategien, weg von kapitalistischer und industrieller Produktivität und hin zu transformativer Konvivialität.

Um sich eine Welt vorzustellen, die nicht in der Binarität von "Entwicklung" und "Unterentwicklung" existiert, bedarf es nicht nur eines theoretischen Denkens und Rahmens, sondern auch der Performativität verschiedener Vorstellungen von dem, was manche Fortschritt nennen. Als Guerilla-Theoretikerin verwebt Rodney in seinem Denken akademische Sphären mit konkreten Realitäten. Wir beziehen uns auf künstlerische Praktiken, die die Paradoxien sichtbar machen, die in den Konstrukten von "Entwicklung" und "Unterentwicklung" enthalten sind. Diese Praktiken beschränken sich nicht darauf, die Widersprüche zu verdeutlichen, sondern sie sind auch generative Räume, die Optionen und Möglichkeiten vorschlagen. Einige Praktiken befassen sich mit dem Thema Abfall und den abhängigen Handelskreisläufen, andere mit systemischen Ausschluss- und Trennungspolitiken. Sie bieten zeitübergreifende Dialoge zwischen den Dynamiken, in denen diese Systeme verwurzelt sind, und den durch sie hervorgerufenen Brüchen. In diesem Projekt wollen wir untersuchen, was aus diesen Brüchen hervorgeht und was aus den Rissen erwachsen kann.

Die Post in Post-( Unter-)Entwicklung ist nicht als Negation von Entwicklung gemeint, sondern als Befreiung von einer Ideologie der Entwicklung, die um das Gefälle kolonialer Macht herum aufgebaut und in kolonialen kapitalistischen Abhängigkeitsstrukturen verankert ist. Post-(Unter-)Entwicklung ist die Negation der Unterordnung und Herabwürdigung, die in "unter" enthalten ist, sie ist die Emanzipation von der imperialistischen Logik der Erpressung und des Profits der einen zum Nachteil der anderen. Es ist eine Vorstellung, die Inter- und Intra-Abhängigkeiten als Modi des Zusammenseins in einer Welt umfasst, in der unser Wohlergehen und unser Atem vom Wohlergehen und Atem der anderen abhängt. Es ist die Fülle von Wissen, Künsten, Wissenschaften, Technologien, Philosophien, die unser situiertes Sein in der Welt mit und in Beziehung zu anderen ermöglicht. Mit diesem Projekt zielen wir darauf ab, ein Pluriversum interdependenter Imaginationen, Visionen und Strategien zu formen, weg von kapitalistischer und industrieller Produktivität und hin zu transformativer Konvivialität.