THE LONG TERM YOU CANNOT AFFORD.
Zur Verbreitung 
des Toxischen

Nichts davon passiert hier. Es passiert weit entfernt, woanders."
"Es könnte aber ebenso gut hier passieren," sagt Iris. "Ich wüsste gerne, was ‘hier’ überhaupt bedeutet. Überall ist ein ‘hier’, oder etwa nicht?

 Ali Smith. 2017. Winter

Niemand von uns, ob Pflanze, Kriechtier oder Mensch, bleibt vom Toxischen unberührt. Ob wissentlich oder nicht, ob in direktem Kontakt oder durch verdünnte Aufnahme weiter flussabwärts, die Verbreitung von Giftstoffen auf diesem Planeten ist derart allgegenwärtig, dass es eine Konstante des Lebens ist, mit Toxizität zu leben. [1]

Die giftigen Konflikte, die den ausbeuterischen und rücksichtslosen Prozessen von  Rohstoffabbau, Produktion und Entsorgung innewohnen, befinden sich im Zentrum einer sich wandelnden Natur der Ökosysteme, zu denen wir heute gehören – mit Millionen an Tonnen von synthetischen Materialien, Pestiziden, Schwermetallen und Chemikalien, die alljährlich freigesetzt werden und zirkulieren. Strukturelle Ungleichheiten auf globaler Ebene und Systeme der “Externalisierung” [2] erlauben es, dass einige Leben von toxischer Ausbreitung verhältnismäßig unberührt bleiben während andere, schlicht um dennoch irgendwie zu überleben, alltäglich hoher Konzentration und lebensbedrohlicher Belastung von Giftstoffen ausgesetzt sind. Das neue Zeitalter der Toxizität ist “ein Zustand, der zwar geteilt wird, aber zu ungleichen Teilen, und der uns ebenso stark trennt wie er uns verbindet.” [3]

Die Ausstellung entwirrt die kaleidoskopischen Bedeutungen des Toxischen, sowohl als Material wie auch als Metapher: In seinen Gemälden fängt Boris Anje die Essenz des überbordenden und schädlichen Materialismus einer kleinen Minderheit der Weltbevölkerung ein, während Nada Tshibuabua Skulpturen aus den Überbleibseln eben jener Ökonomie und des kolonialen Projekts erschafft. Durch Klang überträgt Anja Kanngieser die gelebte Erfahrung von toxischer Schädlichkeit, während Julieta Aranda und Candice Lin die Ängste, Unklarheiten und Bedrohungen betrachten, die in deren Schatten gedeihen. Anu Ramdas und Christian Danielewitz halten kaum wahrnehmbare und schädliche Strahlung als Abdrücke und Verzeichnungen auf photographischem Film fest, und He Xiangyu gibt dem Gefühl, einen allgegenwärtigen Konsumartikel zu trinken, eine materielle Form. Anne Duk Hee Jordan und Pauline Doutreluingne illustrieren die verschiedenen Zusammenhänge, Auswirkungen und Effekte des Einflusses von chemischen Substanzen auf menschliche und nichtmenschliche Akteur*innen, während Nona Inescu eine Ansammlung aus Steinkonkretionen erstellt, die Organen ähneln – eine Materialverdauung im Laufe der Zeit, die offenlegen, wie grundlegend Leben von dessen unmittelbarer Umgebung mit erschaffen wird. Jonas Staal und Stephan Thierbach setzen sich damit auseinander, was es bedeutet, sich um ein giftiges Erbe zu kümmern, nicht nur für Menschen, sondern auch für unsere mehr als menschlichen Begleiter und für den Erdboden, der uns (er)trägt. Jessika Khazrik thematisiert die globale Müllwirtschaft mit besonderem Augenmerk auf die Beziehung zwischen Italien und Libanon, während sich Assaf Gruber auf die Toxizität des kolonialen Projekts und damit verbundener Unternehmungen ewiger museologischer Präservierung fokussiert. Durch einen filmischen Blick, der Überwachungssysteme zitiert, die sowohl mit Ölinteressen als auch mit unsichtbaren spirituellen Kräften zu tun haben können, versetzt Zina Saro-Wiwa Tanzperformances in die Überbleibsel der Infrastrukturen, die die Ölindustrie in Ogoniland hinterlassen hat. Natascha Sadr Haghighian und Ashkan Sepahvand verkomplizieren gegenwärtige und zukünftige Beziehungen zwischen Menschen und deren ökonomischen Geschichte, nichtmenschlichen Lebensformen und der Umwelt, während Neda Saeedi utopische und dystopische Zukünfte in Kristallkugeln einschließt.

Der Fokus unserer Bemühungen liegt weder darauf, jedes Detail aufzudröseln und in vernünftige Kategorien einzusortieren noch zu dämonisieren, Schuldzuweisungen zu machen oder ein unverdauliches Gefühl von paralysierender Schuld am Zustand der Welt zu katalysieren. Vielmehr liegt uns daran, einen Raum für künstlerische und kritische Register zu schaffen, der es uns ermöglicht, innezuhalten, um toxische Präsenz und Textur wahrzunehmen. Er ermöglicht darüber hinaus, die immer neuen Opfer zur Kenntnis zu nehmen und zu betrauern, den Bewegungen der toxischen Schatten zuzuhören. Wir hoffen, dadurch, die Empfindungen weg von paranoider Beherrschung und Angst hin zu einem nachdenklichen und nuancierten Ausblick zu verschieben und dabei den wichtigen Akt der Wahrnehmung zu nähren, dass die intimsten Handlungen eng mit dem Globalen verbunden sind – denn überall ist letztendlich immer auch ein Hier.

Um die globale Verteilung des Toxischen wirklich zu erfassen – die Richtungen seiner Bewegungen, die unermessliche, von ihm hinterlassene Gewalt und die Bemühungen darum, Rechenschaft für dessen gnadenlose Zerstörungsmacht einzufordern – ist die Einsicht davon zwingend, dass die Welt so viel mehr ist, als es die westliche, kapitalistische Vorstellung zu konzipieren in der Lage ist. In einer Zeit, die besonders von Vereinfachungen und einem Verlangen nach Reinheit geplagt wird, ist es wichtig, an den Kampf gegen die brutalen Machenschaften, die zu dem aktuellen Stand der Dinge geführt haben, zu erinnern und alles zu tun, um den abscheulichen Zuständen, die sie noch immer hervorbringen, zu entkommen: von kleinen, alltäglichen Handlungen bis hin zu spektakulären Mobilisierungen, von umgehenden Reaktionen zu strategischem und nachhaltigem Engagement. Im Kern speist sich jede Handlung aus dem Antrieb, neue politische Subjekte zu fördern, die stetig, wenn auch schmerzlich, aus der Vergangenheit in die Zukunft wachsen.

2

Stephan Lessenich. 2015. "Die Externalisierungsgesellschaft: Ein Internalisierungsversuch", Soziologie 44:1, 22–32.

3

Michele Murphy. 2017. "Alterlife and Decolonial Chemical Relations". Cultural Anthropology 32(4), 497.