THE WIND IN YOUR BODY IS JUST VISITING,
YOUR BREATH WILL SOON BE THUNDER

   

 

/dum/dmm/dam/: دم 

Nomen

Atem, Existenz: سانس ، ہستی

/hasti/,/saans/

Seiendes, (Lebe)Wesen:  وجود ، ذات

/zaat/,/wajood/

Mittler:in, Moment:   طفیل ، لمحہ

/lamha/, /tufail/

Das persische lexikalische Morphem دم bezeichnet die fragile Grenze zwischen Leben und Tod und ist zugleich Höhepunkt und Abgrund. Es ist die Verwandlung des Windes in Atem, der den Körper durchdringt und ihn mit einer Kraft aktiviert, die das Leben aufrechterhält. Dieser in uns angelegte Vorgang wurde in der Menschheitsgeschichte immer wieder politisiert und zu einer bewussten Handlung umgestaltet, die sich dann in einem unsicheren Gleichgewicht befindet. In jüngster Zeit ist dieses Gleichgewicht zunehmend verloren gegangen durch die Hierarchien des Daseins, die denjenigen die Luft zum Atmen nehmen, die auf die unterste Stufe verbannt werden. Dort befindet das grundlegende und wichtigste Recht auf Leben im ständigen Kampf gegen rassifizierte und kastenbasierte Gewalt, Polizeigewalt, repressive Regime, unzureichende Versorgungssysteme, Klassenunterschiede und die Klimakatastrophe. Die Covid-19-Pandemie hat zu den bereits bestehenden Herausforderungen neue hinzugefügt, indem die Medikalisierung des Alltags zusätzliche Arbeits- und Mobilitätsbeschränkungen geschaffen hat, die diese systematischen Hierarchien zusätzlich verstärkt und sie noch transparenter als zuvor gemacht haben.

Wie kann der Zustand der Atemlosigkeit und des Erstickens, der das Atmen momentan definiert, im Film über seinen biologischen Aspekt hinaus visualisiert und übersetzt werden? In der Ausstellung THE WIND IN YOUR BODY IS JUST VISITING, YOUR BREATH WILL SOON BE THUNDER konstruiert die Künstlerin und Filmemacherin Pallavi Paul eine Konstellation argumentativer Fragmente, die sich über den gesamten Ausstellungsraum verteilen und dabei Ebbe und Flut des allmählichen Atemstillstands nachempfinden. Sie zieht Parallelen zwischen mehreren scheinbar unverbundenen Ereignissen aus Vergangenheit und Gegenwart, wie beispielsweise dem erstmaligen Einsatz von Giftgas in Deutschland und der Erfindung der chemischen Kriegsführung im Ersten Weltkrieg, gefolgt von deren ausgiebigem Einsatz im Zweiten Weltkrieg, sowie der indischen Kastenpolitik. Sie sammelte wissenschaftliche Beschreibungen von medizinischen Aufzeichnungen von Lungenleiden, und erforschte Meditationspraktiken, die die Atemkapazität erhöhen. Sie recherchierte in unter Verschluss gehaltenen Archiven, die von Polizeibrutalität berichten, und führte Interviews mit Menschen, die beruflich Scheiterhaufen verbrennen und die ihr den Rauch und Geruch beschrieben, der von den brennenden Scheiterhaufen aufsteigt.

Pauls Praxis beschäftigt sich mit dem Freilegen des Verdeckten aus dem Bekannten und Etablierten heraus, mit der Wiederherstellung der Wahrheit, indem sie die Spannung zwischen Abbildung und Erscheinung betont, wobei sie weiterhin die ästhetische Trennung zwischen dem Filmischen und der Welt hinterfragt. In ihrem Filmprozess ist دم jener signifikante und unvermeidliche Moment zwischen dem Gelebten, Gefühlten und Erloschenen, in dem sie diese Trennung auflöst, indem sie diese Fragmente zu einer kohärenten Beschreibung dessen zusammenfügt, was das Atmen in der Gegenwart bedeutet.

THE WIND IN YOUR BODY IS JUST VISITING, YOUR BREATH WILL SOON BE THUNDER ist Teil einer Reihe von Einzelausstellungen von SAVVY Contemporary in Zusammenarbeit mit dem Forum Expanded, bei denen Filmemacher:innen eingeladen werden, Recherchematerial aus ihren Archiven zu präsentieren, um ihre filmischen Praktiken zu ergänzen: zusätzliches Filmmaterial, Objekte, Texte, Notizen, die während des Filmemachens gesammelt wurden. Beim Filmemachen werden manchmal Hunderte von Stunden an gefilmtem Material zusammengeschnitten, um die endgültige Länge des Films zu erhalten. Das Konzept des "Killing your darlings" ist eine Methode der Eliminierung. Aber die entscheidende Frage ist, wohin gehen die Lieblinge, nachdem sie getötet wurden? In früheren Ausstellungen dieser Reihe haben wir versucht, die Darlings wieder auferstehen zu lassen, um das Archiv wiederzubeleben und über die Möglichkeit der Dreidimensionalität der Filmleinwand im Ausstellungsraum nachzudenken. In diesem Jahr kehrt Pallavi Paul den Prozess um und teilt ihre umfangreichen Recherchen, die sich auf dem Weg des Werdens befinden, indem sie die Darlings pflegt und eine Konstellation von Argumenten schafft, die im Ausstellungsraum verteilt sind und deren Durchquerung und Verknüpfung der Dauer eines Films entsprichen.

Text von Hajra Haider Karrar 

PALLAVI PAUL ist eine in Neu-Delhi lebende bildende Künstlerin und Filmwissenschaftlerin. In ihrer Arbeit hinterfragt sie, wie die Idee von "Wahrheit" im öffentlichen Leben produziert und verhandelt wird. Paul interessiert sich besonders für die Spannung zwischen dem Dokument und seiner ästhetischen Äußerung - dem Dokumentarfilm. Sie promovierte in Filmwissenschaften an der School of Arts and Aesthetics der Jawaharlal Nehru University in Neu-Delhi. Ihre Arbeiten wurden unter anderem in der Tate Modern, London (2013); AV Festival, New Castle (2018, 2016); Beirut Art Centre, Libanon (2018); SAVVY Contemporary, Berlin (2019); Contour Biennale, Mechelen (2017); New Alphabet School, HKW Berlin (2020); The Rubin Museum, New York (2019) ausgestellt. Derzeit lebt sie in Berlin als Stipendiatin des Berliner Künstlerprogramms des DAAD.

      

Vergangene Projekte in Zusammenarbeit mit dem Forum Expanded der Berlinale: